Zwischen Risiko und Sicherheit

(Quellen: avenirsuisse, ETH-Forschung und Bundesamt für Statistik)

 

Die Schweiz ist wirtschaftlich, trotz Krise, noch gut aufgestellt. Der starke Schweizer Franken bietet Schutz vor der noch stärker steigenden Inflation. Die Rezessionsängste greifen um sich und beflügeln die Phantasien, was geschehen könnte.  Die Arbeitslosigkeit, Anmeldungen bei den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren,   hat sich auf 1,9% zurückgebildet. Der Personalmarkt bietet immer noch neue Stellen an und die Einwanderungen,  nicht nur für Flüchtlinge,  sind auf einem Hoch. Die Inflation pendelt zwischen 3,5% und gefühlten 6%. Das ist im internationalen Vergleich ein Spitzenwert. In der Sozialpolitik ist es gelungen seit 25 Jahren eine sehr knappe Volksmehrheit zur Finanzierung der AHV zu beschliessen. Risiken für die Schweiz gibt es trotzdem. Sei es bei der Innovationsförderung, dem Krisenmanagement, der Chancengleichheit, dem Gesundheitswesen oder beim starken Wachstum der staatlichen Arbeitsstellen. Es gibt zu tun. Auf den Lorbeeren ausruhen ist eine falsche Strategie, die in zunehmenden Mass mit der Durchwurstelstrategie in Verbindung gebracht werden muss.

Risiken und Chancen

Wir gehen davon aus, dass die Innovationsausrichtung nicht primär staatlich gefördert werden soll. In der Schweiz gibt es aber viele staatlich geförderte Innovationsfonds, die vor allem mit dem Thema „Klimaschutz“ vorangetrieben werden. 2016 zählte man in der Schweiz 93 kantonale, 14 regionale und 19 nationale Organisationen mit dem Titel der Innovationsförderung. Das Spektrum der Themen ist breit und geht von Beratung über Subventionen bis zur Vernetzung von Akteuren. Staatlich geförderter Ideenreichtum ist schwer nachzuvollziehen. Das Staatssekretariat für Wirtschaft hat in einem Bericht nachgewiesen, dass staatliche Interventionen via Innovationsfonds nicht wirksam sind. Die Wettbewerbsordnung ist zu stärken mit der langfristigen Sicherung der Marktzugänge zu den wichtigsten Handelspartnern, beispielsweise zur EU.

Im Unterschied zu den USA, wo man von der „Great Resignation“ gesprochen hat, ist die Erwerbsbeteiligung – Erwerbstätige plus Erwerbslose -  in der Schweiz in der Corona-Krise nur ganz leicht gesunken. Auch bei den Stellenwechseln kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich das Verhalten der Menschen am Arbeitsmarkt stark verändert hat. Die Rotationsquote lag im vierten Quartal  2021 bei 4,2%. Zu Beginn der Pandemie war die Quote bei 2,9%. Die Stellenwechsel fanden ohne Unterbrüche statt. Eine Kündigungswelle ist ausgeblieben, was sicher auch mit den Kurzarbeitsentschädigungen in Verbindung gebracht werden kann. Aus heutiger Sicht, 2022, kann festgestellt werden, dass die Arbeitslosigkeit auf 1,9% gesunken ist. Allerdings ist nicht abzuschätzen, was die wahrscheinlich bevorstehende Rezession auslösen könnte. Die Konjunkturforschungsstelle der ETH geht Mitte Oktober davon aus, dass es keine Rezession geben wird, unter der Voraussetzung, dass die Stromproblematik beherrscht wird. Das Stellenangebot hat sich stabilisiert, nachdem es 2021 20% offene Stellen gegeben hat, im Vergleich mit 2019. Der Arbeitsmarkt Schweiz ist erstaunlich stabil, obwohl sich  beim föderalen Pandemiemanagement starke Schwachstellen offenbart haben. Was passiert aktuell bei steigenden Corona-Zahlen?

Die Problematik der Stromversorgung ist eine „neue Herausforderung“ für das Management des Staats. Man darf gespannt sein, was nach der Informationsoffensive zum Stromsparen geschieht. Werden die Strukturen im Strommarkt aufgebrochen? Ist es möglich, dass der Strommarkt mehr den Gesetzen von Angebot und Nachfrage folgt? Eine Herkules-Aufgabe, wenn man bedenkt, dass bei den Stromeignern über 90% den Kantonen gehören, die immer weniger im Verwaltungsrat vertreten sind und für die künftige Versorgung der Nation mit Strom Abseits stehen. Es kann nicht sein, dass Stromkonzerne sich an der Strombörse verzocken und beim Staat eine Garantie von CHF 4 Mrd für die Liquiditätsversorgungen einfordern.

Ein eher an den Risiken orientiertes Thema ist die Ausgabefreudigkeit der Politik. Die Corona-Pandemie hat eine starke Wachstumsdynamik bei den Staatsausgaben ausgelöst, die noch immer weiter geht. Die Sonderausgaben belaufen sich immer noch um CHF 10 Mrd. Die Staatsquote ist innert 30 Jahren um 9,1% gestiegen. Die Ausgabefreudigkeit der Politik treibt sonderliche Blüten. Ein paar Beispiele: CHF 15 000.—zur Finanzierung eines Bancomaten oder CHF 94 000.—für „die freche Traubenschorle“ für mehr Trauben auf dem Schweizer Markt. Ökonomische Gesetzmässigkeiten gelten in der Klima- und Energiepolitik nicht mehr. Parallel zum Ausgabenwachstum verläuft die Personalausstattung im öffentlichen Sektor. Beim Bund ist das Wachstum an neuen Stellen seit 2 000, mit 31 000 Vollzeitstellen, auf 38 000 Stellen 2021 gestiegen, also 21,4%. Die Brutto-Bundesvollzeitstelle hat ein Durchschnittseinkommen von CHF 126 329.- Das wird über Steuergelder finanziert und die Wettbewerbskraft und Innovationskompetenz der Schweiz wird kaum gefördert. Wenn diese Stellenwachstums- und Lohndynamik auch die Geschwindigkeit von Umsetzungsmassnahmen fördern würde, dann wäre dies ein „gutes Ohmen“. Wenigstens kann ein positiver Einfluss auf das Bruttoinlandprodukt festgestellt werden. Hier handelt es sich um grosse Risiken, die zu beachten sind. 

Chancen beinhaltet der Arbeitsmarkt, der den gesellschaftlichen Veränderungen folgt. Die Ehe mit dem Versprechen „Bis der Tod Euch scheidet“ hat ausgedient. Das traditionelle Familienmodell ist auf dem Abstieg und die Rollenbilder in der Familie werden verändert. In der Arbeitswelt hat die Teilzeitarbeit stark zugenommen. 1991 waren 50% der Frauen und 8% der Männer in Teilzeit beschäftigt. Nach 30 Jahren sind es 60% Frauen und 18% Männer, die in Teilzeit arbeiten. Viele Personen verfolgen keine linearen Karrieren beim gleichen Arbeitgeber. Die Firma wird häufiger gewechselt, mehrere Stellen werden kombiniert oder die Personen arbeiten teilweise als Selbständige. Gesucht ist die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privat, mehr Autonomie bei der Organisation der Arbeit und Flexibilität in Bezug auf die Arbeitsbelastung und Arbeitszeiten. Aber die Veränderungen in der Arbeitswelt spiegeln sich nicht in den Sozialwerken. Die berufliche Vorsorge ist noch in den 1980-iger Jahren verankert. Eine Herausforderung an die Revision der privaten, beruflichen Vorsorge, die aktuell ansteht. Die Versicherten haben kein Mitspracherecht bei der Anlage von Vorsorgegeldern. Die Anlagestrategie müsste dem Arbeitnehmer:in überbunden werden, ebenso die freie Wahl der Pensionskasse. Ausgangsituationen, die für den Arbeitsmarkt Chancen bieten. Die Gefahr besteht darin, dass die neuen Formen in der Arbeitswelt durch die Unfähigkeit der politischen Reformen torpediert werden können. 

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Durchwursteln anstelle von klaren Strategien

Das Gesundheits- oder Krankheitssystem und das dazugehörige Management der Krankenkassenprämien ist ein klassisches Beispiel des Durchwurstelns. „Klassisch“, weil seit Jahren, mit kurzen Pausen, die Prämien nur eine Richtung kennen und die Verantwortlichen nichts dagegen tun können oder wollen. Dass etwas passieren muss ist klar, die Motivation das Richtige zu tun ist wegen den vielfältigen Interessen und -Verbindungen nicht vorhanden und der Druck etwas tun zu müssen ist vorhanden. Letzteres spiegelt sich in den steigenden Zahlen der Ergänzungsleistungsempfänger und der zunehmenden Armut in der Bevölkerung.

Während den letzten Dekaden haben sich die chronischen Krankheiten auf sehr unterschiedliche Art erhöht und verlängert. Dies trotz „Spitzenmedizin“ und „guter Versorgung“ der Patienten:innen. Die klassischen Mittel der Schulmedizin reichen nicht aus, die Entwicklung zu stoppen oder zu verlangsamen. Es gibt zu viele Fachärzte, die von immer Weniger etwas verstehen und den Blick auf die Ganzheitlichkeit vermissen lassen.  Die Regierung hat einen Katalog von rund dreissig Massnahmen entwickelt, wie die steigenden Prämien zu bekämpfen wären. Das Parlament zerzaust die Vorschläge und macht sichtbar wie stark die Interessenbindungen unter der Bundeshauskuppel sind. Die Kostentreiber im Gesundheitswesen sind bekannt. Die Ausgangslage im vielteiligen Gesundheitssystem ist nicht nur komplex, sondern kompliziert. Alle Teile der Systemelemente Gesundheitssystem sind miteinander wechselseitig verbunden. Die Dynamik im System ist charakterisiert durch aufschaukelnde Prozesse, die das Gesamtsystem destabilisieren. Die Suche nach stabilisierenden Prozessen ist erfolglos. Es müsste möglich sein, das Einfache zu finden, welches nachhaltige Verbesserungen auslösen könnte. Die Diskussion der politischen Rahmenbedingungen führt unter den Parteien zu gegenseitigen Anschuldigungen, ohne dass der Fokus auf Lösung der Probleme ausgerichtet ist. Immerhin liegen zwei politische Initiativen vor, die aber keine Chance zur Umsetzung haben. „Viel Lärm um Nichts“ ist die Devise, oder „zurück auf Feld Nummer eins“. 

In der Politik herrscht inflationärer Aktivismus. Der Schattenwurf der bevorstehenden Parlamentswahlen 2023 wird bereits spürbar. Von Links bis Rechts überbieten sich die Vertreter:innen mit Forderungen, Motionen oder Anfragen, die dem eigenen Profil dienen sollen und den Wählenden „Geschenke“ versprechen. Aktuell machen Versuche die Runde die Wähler von den Preiserhöhungen im Energiesektor zu entlasten. Dies bei einer Sockelinflation von 1,9%. Kostenwahrheit im Energiesektor zu verlangen ist zwar schön, macht aber wenig Sinn, wenn gleichzeitig die Teuerung von Heizöl und Erdgas mit politischen Massnahmen zunichte gemacht wird. Fällige Reformen müssten angegangen werden. Die Abschaffung der Verrechnungssteuer hat aber das Volk abgelehnt. Die Individualbesteuerung würde finanzielle Anreize schaffen, damit sich ein zweites Familieneinkommen lohnt. Die Individualbesteuerung könnte rund 60 000 Personen in Vollzeitstellen in den Arbeitsmarkt zurückholen. Der Lohndruck aufgrund des Fachkräftemangels könnte reduziert werden und einen Beitrag zur Brechung der Inflationsspirale leisten. Nach der knappen Annahme der AHV-Revision ist das Thema der beruflichen Vorsorge anzugehen und die Diskriminierung der Frauen abzuschaffen. Ein Beitrag zur Chancengleichheit, die selbst im Bildungswesen nicht realisiert ist. Es gibt immer noch sehr unterschiedliche Chancen eine Mittelschule oder Universität zu besuchen. Dieser Aspekt ist abhängig vom Einkommen der Eltern. Unerklärlich ist auch die sehr unterschiedliche Verteilung der Maturitätsquoten. Die ETH-Bildungsforschung spricht von 30% Schülern, die in der Mittelschule am falschen Ort sind.

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Deregulierung und Chancen

Die Regulierungsdichte ist gross und intensiv, mit dem Beispiel Landwirtschaft. Da gibt es rund 4 000 Seiten an Gesetzen, Verordnungen und Vorschriften, die den bäuerlichen Alltag prägen. Es verwundert niemanden, dass die grosse Zahl der Bauern sich nicht zum selbständigen Unternehmertum hingezogen fühlen. Nötig wäre ein breit abgestützter Wille zur Deregulierung. Dass dies vorläufig eine Illusion bleibt versteht jeder, der die Zusammensetzung im Parlament, mit einer starken Bauernlobby, kennt. Ein stufenweiser Abbau der Zolltarife und der Kontingente für landwirtschaftliche Güter könnte möglich sein. Eine Übergangszeit zu neuen Ufern könnte verträglich gestaltet werden. Ein positives Beispiel ist der Export von Käse. Da sind neue Märkte eröffnet worden. Ein negatives Beispiel ist die Tierschutzinitiative, bei welcher eine lange Übergangszeit zur Abschaffung der Massentierhaltung vorgesehen gewesen ist. Argumentiert wird gegen eine Öffnung immer mit dem Preisniveau, welches Einbussen erleiden würde und die Existenz der Bauernschaft in Frage stellt. Es ist aber kein Naturgesetz, dass hohe Löhne zu einem hohen Preisniveau führen müssen. Wie ist es möglich, dass die Preise für Lebensmittel in Luxemburg tiefer sind als in Österreich? Ein weiterer Punkt betrifft die Selbstversorgung des Landes, die mit rund 50% auf einem guten Niveau ist. Es ist wichtiger, dass die Versorgungssicherheit garantiert werden kann. In der aktuellen Zeit, mit intensiven Importen und Exporten, muss zur Kenntnis genommen werden, dass viele Hilfsstoffe und Produktionsmittel schon heute aus dem Ausland importiert werden. 

Personalmanagement beim Fachkräftemangel

Die Schweizer Firmen tun sich sehr schwer mit dem Fachkräftemangel. Mehr Mühe als auch schon gibt es bei der Rekrutierung von Niedrigqualifizierten. Der Fachkräftemangel ist struktureller Natur. Die langfristigen Entwicklungen wie die Überalterung der Gesellschaft oder die Pensionierungen der Baby-Boomer-Generation akzentuieren das Problem des Fachkräftemangels. Die grosszügigen Pandemie-Massnahmen tragen weiter dazu bei, dass es einen Fachkräftemangel gibt und damit auch die Personalknappheit. Auch das Matching von Voraussetzungen der Stellensuchenden mit den Anforderungen der Stellenangebote läuft nicht rund. Andererseits spiegelt der Personalmangel grössere Umwälzungen am Arbeitsmarkt nicht. Die prozentualen Änderungen bei den Stellen pro Jahr ist auf einem tiefen Niveau. Die berufliche Mobilität ist moderat. Trotz Pandemie haben sich die Arbeitnehmenden nicht stark nach Arbeiten in anderen Branchen oder anderen Herausforderungen  ausgerichtet. Die Personenfreizügigkeit mit der EU löst das Problem des Fachkräftemangels auch nicht zufriedenstellend. Wahrscheinlich ist aber, dass die Situation am Arbeitsmarkt ohne Personenfreizügigkeit akuter wäre. Unbestritten ist, dass es Handlungsbedarf gibt. Das inländische Potenzial an Arbeitskräften ist besser auszuschöpfen. Es gibt Reserven bei Personen, die arbeiten könnten aber nicht arbeiten wollen. Ein weiterer Ansatz ist die Individualbesteuerung, die aktuell in der Politik diskutiert wird. Gegner und Befürworter:innen beurteilen die neuen Arbeitsformen oder die „neuen Familienmodelle“ sehr unterschiedlich. Die Befürworter gehen davon aus, dass die Berufstätigkeit der Frauen gesteigert wird. Statistische Untersuchungen rechen mit einer Zunahme  zwischen 50 000 und 60 000 Vollzeit-Stellen. Die Gegner führen Nachteile bei der Besteuerung und den damit verbundenen Bürokratismus ins Feld. Es müssten rund 1,8 Millionen zusätzliche Steuererklärungen geprüft werden. Sie  bevorzugen nach wie vor das klassische Familienmodell mit dem männlichen Ernährer. Weiter müsste auch über Alternativen zum bürokratischen Kontingentsystem für Dritt-Staaten-Arbeitskräfte nachgedacht werden. Der Bedarf nach Humankapital wird zukünftig vermehrt ausserhalb des europäischen Raums abgedeckt werden müssen. 

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Fazit

Bei den Risiken sticht die Langsamkeit der Prozesse auf der politischen Ebene ins Auge. Chancen ergeben sich über die sehr gut aufgestellte Wirtschaft und die Bereitschaft in der Zivilgesellschaft sich den Anforderungen nach erhöhter Flexibilität zu stellen. Die Langsamkeit der politischen Entscheidungsprozesse ist stark mit der fehlenden, klaren Strategie für die Schweiz verbunden. Der inflationäre Aktivismus ist keine Lösung für die Reformunfähigkeit. Die stark regulierte Landwirtschaft muss sich deutlich öffnen und den Herausforderungen offener Märkte stellen. Bei Fachkräftemangel muss neu nachgedacht werden. Nur die Individualbesteuerung löst das Problem nicht. Die Erweiterung des gedanklichen Horizonts muss zum Thema gemacht werden. 

 

Eduard Hauser

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