Vorausdenken statt Durchwursteln

„Durchwursteln“ ist eine Strategie ohne klare Ausrichtung. Diese wird durch den „Wind“ vorgegeben. Nützlich ist eine zukunftsorientierte Strategie, die sich auf die Erfolgspositionen eines  Landes ausrichtet und die geopolitischen Veränderungen in der Politik, Gesellschaft und Wirtschaft antizipiert.

Die aktuelle Position der Schweiz im internationalen Kontext

Geopolitische Verwerfungen ergeben sich  durch die sich akzentuierende Rivalität zwischen den Grossmächten USA und China. Beide Länder sind wichtige Handelspartner mit Potenzial. Für das kleine, politisch nicht sehr bedeutende Land Schweiz ist es ein Balanceakt, oder ein diplomatisches Kunststück, im Kräftemessen zwischen den grossen Blöcken nicht aufgerieben zu werden. Es ist klug für die Schweiz, sich auf die strategischen Erfolgspositionen der Wirtschaft zu besinnen; gehört doch das kleine Land zu den zwanzig stärksten Volkswirtschaften der Welt. Die Beziehungen zum Europäischen Raum sind überdies sehr wichtig, weil damit die wichtigsten Handelspartner ins Spiel kommen. Der aktuelle Ukraine-Krieg hat bisher gezeigt, dass die Vorbereitung von Regierung und Verwaltung zu Neutralitäts- Sicherheits- und Wirtschaftssanktionsfragen zentral ist. Aktuell nimmt die Schweiz eigenständige Positionen bei den Sanktionen für sich in Anspruch. Das Land ist mit einem Glanzresultat in den UN-Sicherheitsrat gewählt worden. Wie soll sich die Schweiz bei der Sicherheitspolitik zwischen der militärischen  Annäherung an die NATO und der wirtschaftlichen Verbindung mit der EU verhalten? Die Neutralitätsfrage des Landes hat eine aktuelle Dimension erhalten, die in Diskussion gebracht worden ist. Die Regierung spricht von der „kooperativen Neutralität“.

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Balanceakt auf einem schmalen Grat

Die Schweiz ist viele Jahre mit der Strategie des Durchwurstelns gut gefahren. Dies betrifft das Interagieren zwischen den Machtblöcken und der Umgang mit der Europäischen Union. Heikle Fragen mussten nicht unmittelbar beantwortet werden. Das hat sich in jüngster Zeit geändert. Durchwursteln führt zu einem strategischen Vakuum. 

Die Schweiz kann sich nicht isoliert auf Peking ausrichten. Trotz der wirtschaftlichen Aufholjagd Chinas  bleiben die USA und die EU wirtschaftlich, politisch und kulturell die wichtigsten Bezugspunkte der Schweizer Aussen- und Wirtschaftspolitik. Die ökonomischen Verflechtungen sind deutlich grösser als mit China. Der vom Westen erhoffte „Wandel durch den Handel“ hat sich trotz starkem Wohlstandzuwachs im bevölkerungsreichsten Land der Erde nicht bewahrheitet. Der Systemwettbewerb zwischen den USA und China bleibt Realität. Das autoritär regierte China zeichnet sich durch eine aggressive wirtschaftspolitische Expansion aus, mit zunehmend fehlender Rechtsstaatlichkeit, Verhinderung von Meinungsfreiheit und repressivem Vorgehen gegenüber Minderheiten. Die Schweiz balanciert auf einem schmalen Grat zwischen Einbindung in die westliche Welt und der Sicherung des Marktzugangs zum drittwichtigsten Handelspartner China; 31 Mrd CHF Export und 19 Mrd CHF Import mit China, bei einer Beschäftigung von rund 130 000 Arbeitnehmenden sind zu berücksichtigen. Wenig bedeutend sind allerdings die Direktinvestitionen Chinas in der Schweiz. Direktinvestitionen aus den USA in der Schweiz liegen bei 49%, jene von der EU bei27%. China liegt bei 1%.

Was bleibt ist die Vertiefung des Netzwerks an Handelsbeziehungen, mit dem Anstreben von Freihandelsabkommen, beispielsweise mit den USA oder Australien. Entscheidend ist dabei die demokratische Wertebasis. Die Folge ist die Stärkung der Widerstandskraft der schweizerischen Volkswirtschaft. Albert Einstein: „Man muss die Welt nicht vollends verstehen, man muss sich nur darin zurecht finden“.

Die Schweiz ist gut beraten, wenn ein Schulterschluss mit der EU und den USA geschieht. Die Beziehungen zur EU sind einem Erosionsprozess unterworfen.  Die Hürden zur Teilnahme am EU-Binnenmarkt werden höher. Erwähnenswert sind die Verschlechterungen für Hersteller von Diagnostika, wegen der fehlenden Aktualisierung des Abkommens über die technischen Handelshemmnisse. Ganz besonders sind die Regionen der Nord-West-Schweiz betroffen. Der rechtliche Spielraum der Kantone in der Aussenpolitik müsste überprüft werden.  Eine zweigleisige Strategie im Verhältnis mit China ist möglich. China als Partner und wirtschaftlicher Wettbewerber und die systemische Behandlung der Rivalen. Das Beste ist wohl eine pragmatische Handlungsweise; Diplomatie und kommunikatives Geschick. Agilität der Politik wird eingefordert.

Dass die Schweiz ein Reform- oder Umsetzungsproblem hat zeigt sich bei einer aktuellen Studie der Schweizerischen Energie-Stiftung zu den erneuerbaren Energien. Erneuerbare Energien werden im europäischen Vergleich nur langsam ausgebaut. Beim Solarstrom reicht es im Ranking immerhin unter die Top Ten. 22 EU-Staaten rangieren im Vergleich vor der Schweiz, oder: die Schweiz steht auf Rang 23. Der Schweizer Wert liegt bei 373 Kilowattstunden pro Kopf. Die Spitzenreiter Schweden und Dänemark haben pro Kopf acht mal mehr Strom aus Sonne und Wind hergestellt. Das ist alles nicht neu, weil die Schweiz seit 2010 stets am Schluss der Tabelle zu finden ist. Der Ausbau der Windkraft stockt wegen vielen Einsprachen; die fünfte Landessprache ist eben die Einsprache. Die Wind-Produktion pro Kopf liegt 2010 bei 5 Kilowattstunden pro Kopf, 2020 sind es 17 Kilowattstunden pro Kopf. Das ergibt Rang 25. 

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Protektionistische Handelsströme sind im Vormarsch

Die hohen Zölle aus dem Handelsstreit zwischen USA und China beschäftigen Firmen, die in beiden Ländern aktiv sind. Nebst Planungsunsicherheiten und hohen direkten Kosten bei einem Verstoss entstehen hohe Aufwändungen für Firmen, die im Bereich der Hochtechnologie arbeiten, verbunden mit zunehmenden Exportkontrollen.  Schweizer Firmen beschäftigen die hohen Industriezölle weniger, weil weniger als 10% der gesamten Stahl- und Aluminiumexporte in die USA gehen. Für produzierende Firmen in den USA sieht das aber anders aus. 

Auch China setzt auf vermehrte inländische Produktion.  Die Volksrepublik zielt auf eine Steigerung der Binnennachfrage und will sich auf inländische Produktion stützen. Die Internationalisierung der chinesischen Wirtschaft soll als Unterstützung der Modernisierung und Entwicklung des Landes dienen. Es ist die Absicht die Abhängigkeit von ausländischen Ressourcen und Technologien zu reduzieren. China will Marktführer bei strategischen Zukunftsbranchen und der Wissenschaft werden. Bis 2049  soll China zur Supermacht aufsteigen. Eine Abkehr der protektionistischen Haltung ist nicht zu erwarten. Der Staatskapitalismus fordert die liberale Wirtschaftspolitik des Westens heraus. Auch die US-Amerikanischen Aussenwirtschaftspolitik setzt weiterhin einen klaren Fokus auf den Schutz der nationalen Wirtschaft. Eine gezielte Industriepolitik soll die amerikanische Produktionsbasis wiederbeleben und die Arbeiterklasse unterstützen. Wie soll durch die Einschränkung der internationalen Arbeitsteilung die amerikanischen Konsumenten von tieferen Preisen profitieren, wenn durch den Einbezug von günstigeren Produktionsprozessen im Ausland tiefere Preise entstehen? Trotz dieses Wiederspruchs ist eine Abkehr von dieser Haltung nicht zu erwarten; wo bleibt der Multilateralismus?

Sanktionen und ihre Wirksamkeit – im speziellen im Ukraine-Krieg

Bei kriegerischen Konflikten stellt sich immer wieder die Frage: „Wie wirksam sind Sanktionen gegen Kriegsparteien?“ Im Krieg gegen die Ukraine hat es die westliche Gemeinschaft binnen vier Tagen  geschafft, gegen Russland koordiniert vorzugehen und Sanktionen zu ergreifen.  Die erste Runde der Sanktionen schien harmlos, denn sie betrafen ausschliesslich russische Banken und Technologieexporte. In der zweiten Runde gab es eine starke Verschärfung. Dem russischen Finanzsektor ist der Zugang zu Swift, dem Finanznachrichtennetz, verwehrt worden, Auslandvermögen russischer Oligarchen sind beschlagnahmt und die meisten russischen Zentralbankreserven in Übersee sind eingefroren worden.

Zuerst muss der Zweck von Sanktionen klar sein. Das Ziel ist, die Betroffenen zu zwingen ihr Verhalten zu ändern, um die Kosten der Sanktionen zu vermeiden. Bisher sind Sanktionen nur selten zu Verhaltensänderungen gekommen. Im 20-igsten Jahrhundert waren nur 3 von 19 Versuchen erfolgreich. Die höchste Wirksamkeit wird erreicht, wenn die Sanktionen koordiniert und multinational umgesetzt werden. Bei diesem Vorgehen steigen die Kosten für die Sanktionierten. Das Ziel der Sanktionen gegen Russland ist aktuell nicht erreicht. Die Kosten für Russland sind allerdings erheblicher als bei früheren Aktionen. Wahrscheinlich ist eine schwere Wirtschaftskrise in Russland. Annahmen lauten auf 10% bis 15%. Abhängig ist diese Annahme von verhinderten Importen aus dem Westen. Devisen zur Fortsetzung des Kriegs sind reichlich vorhanden, weil Öl und Gas auch nach China und Indien exportiert werden können, auch mit Preisnachlässen. Die aktuelle Situation zeigt auf, was bei starken Abhängigkeiten passieren kann. 2021 machten Ölexporteinnahmen Russlands rund 53% aus, wobei mehr als die Hälfte dieser Exporte nach Europa ging. In der EU kann man heute von einem Öl-Embargo-light ausgehen. Die Piplines sind nach wie vor offen. Die Schweiz hat sich nach längeren Überlegungen den EU-Sanktionen angeschlossen. Schweizer Banken ist vom US-Botschafter  bereits gedroht worden, alle auffindbaren Gelder von sanktionierten Russen zu beschlagnahmen. Eine Anpassung hat bereits stattgefunden und rund CHF 9 Mrd russischer Gelder sind eingefroren. Die Kosten einer direkten Provokation und potenziellen Konfrontation mit der EU und den USA wären für die Schweiz bei weitem grösser als jene einer Entkoppelung der russischen Wirtschaft, die als Handelspartner einen geringen Stellenwert hat.

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Der Schweizer Arbeitsmarkt auf der Prüfbank

Erfreulich ist festzuhalten, dass die Schweiz in der Wettbewerbsfähigkeit nach wie vor einen Spitzenplatz einnimmt. Aktuell ist es Rang 2, hinter Dänemark. Das IMD-Ranking bewertet im „World Competitiveness Ranking 2022“ 333 Kriterien. Pro Land werden rund 100 Manager befragt. Die Schweizer Nachbarländer schaffen es nicht in die Top Ten. Deutschland auf Rang 15, Österreich auf Platz 20, Frankreich auf Platz 28 und Italien auf Rang 41. Dänemark ist digital das fortschrittlichste Land der Welt, verfügt über einen agilen Unternehmenssektor und legt grossen Wert auf Nachhaltigkeit. Die Schweiz ist top wenn es um die Funktionsfähigkeit des Staates oder um die gute Infrastruktur geht. Bei der Wirtschaftsleistung resultiert, wegen den hohen Preisen, nur Rang 30. Der Nachholbedarf bei der Digitalisierung ist ebenfalls ein Problem. 

Die Gesamtbeschäftigung in der Schweiz zeigt sich positiv. Die Anzahl Stellen ist innert Jahresfrist um 2,5%, damit das vierte Mal in Folge, gestiegen. Die Beschäftigung ist im sekundären Sektor um 2%, im tertiären Sektor um 2,6% gestiegen. In der gesamten Wirtschaft wurden rund 114 000 offene Stellen gezählt; rund 60% mehr als im ersten Quartal 2021. In allen Grossregionen zeigt das Beschäftigungsbarometer nach oben. Laut Bundesamt für Statistik sind die Aussichten gut. Der Indikator der Beschäftigungsaussichten steigt gegenüber dem Vorjahr auf 3,9% und übertrifft in allen Branchen und Grossregionen den Wert von 1,0%. Rund 15% der Firmen planen ihre Belegschaft im nächsten Quartal zu erhöhen und 68% wollen sie beibehalten. Nur 2,7% sehen einen Beschäftigungsabbau vor. Die Arbeitslosigkeit steht per Ende Juni 22 bei 2% - rund 90 000 Stellensuchende – Ausgesteuert sind 23 000 – jeden Monat minus 3 000, die in die Erwerbslosenstatistik einfliessen – und 104 000 Personen sind erwerbslos.

Die Frage ist bei all den guten Nachrichten, wie entwickelt sich die Inflation –Per Ende Juni 22 bei rund 3,4% - und welche Szenarien möglicher Konjunkturrückgänge sind zu erwarten? Welche Einflüsse haben der Krieg in der Ukraine oder die wieder aufflammenden Ansteckungszahlen? Zum Optimismus passen auch die zunehmenden Geburtenzahlen – 890 000 – und die Tatsache, dass rund 71% der Erstgebärenden zwischen 30 und 40 Jahre alt sind. Zu denken gibt aber die Zunahme psychischer Beratungen an den Universitäten. Im Vergleich zum Vorjahr sind es plus 12%. Oder die Zunahme von Suiziden bei den 10 bis 19-Jährigen, mit einer starken Zunahme im Vergleich mit den letzten zwei Jahren Das Phänomen zeigt sich in der ganzen Schweiz und kann wohl kaum nur mit der Pandemie und dem Krieg in der Ukraine erklärt werden. Es könnte sein, dass die Lern- und Lebenstüchtigkeit abnimmt. 

Schlussfolgerungen

Die Strategie Durchwursteln hat wenig Zukunftsaussichten. Die Schweiz muss sich auf ihre Erfolgspositionen ausrichten und diese geopolitisch geltend machen. Die bewaffnete Neutralität muss diskutiert werden und in Kombination mit einer kooperativen oder aktiven Neutralität auftreten. Die Balance zwischen den grossen Blöcken USA, China und EU ist eine Gratwanderung, die mit einer eigenständigen Neutralitätspolitik und der Aushandlung weiterer Freihandelsabkommen angegangen werden kann. Wandel durch Handel hat sich nicht bewährt. Die anstehenden Konflikte und Herausforderungen zwischen den wichtigen Handelspartnern sind proaktiv anzugehen. Die Wettbewerbskraft muss erhalten und gefördert werden. Die Digitalisierung und das zu hohe Preisniveau setzen Grenzen. Die Innovationskraft und der starke Franken können zur Wettbewerbskraft beitragen. Alte Zöpfe in der nationalen Politik, beispielsweise die staatsangestellten Bauern, müssen in ihrer Funktion  hinterfragt und bei den nachhaltigen Aufgaben gefordert werden. Das langsame Tempo bei den dringenden Reformvorhaben muss beschleunigt werden, selbst dann, wenn „alte Zöpfe“ abzuschneiden sind.

 

Eduard Hauser